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Die poetische Theoriebildung Europas bezog ihre entscheidenden Innovationsschübe schon im 16. Jahrhundert aus dem intensiven Studium antiker Dichtungstheorien. Doch gestalteten sich Übersetzung und Anpassung der poetologischen Paradigmen alles andere als glatt. Eine besondere Herausforderung stellte der Wissenstransfer zu Beginn des 17. Jahrhunderts für diejenigen dar, die das Ordnungsinstrument der Poetik nicht allein zur Kodifizierung antiker Maßgaben nutzen wollten, sondern auch das eigene, volkssprachliche Idiom bearbeiten mussten, um dem doppelten Anspruch auf Formvollendung in der Manier der ‚Alten‘ und moderne Konkurrenzfähigkeit zu genügen. So erklärt sich speziell im deutschen Sprachraum das Interesse der Poetiker an den jüngeren Techniken der vers- und reimmetrischen Regulation, die in England, den Niederlanden, vor allem aber in der Romania längst elaboriert waren und nun einem älteren Legitimationsrahmen eingepasst werden mussten, den sie eigentlich bereits sprengten. Die damit verknüpften Fragen von Freiheit und Zwang, Maß und Exzess, Nutzen und müßigem Divertissement gehen in ihrer Tragweite über den engeren Bezirk des prosodischen decorums hinaus und zeichnen nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges die Konfliktlinien weiterer Querelles vor, im Zuge deren die ‚Modernen‘ nicht nur untereinander in Rivalität treten, sondern auch die zeitlose Mustergültigkeit der Antike erodiert und im Parteienstreit unter historischen Behauptungsdruck gerät. | Die poetische Theoriebildung Europas bezog ihre entscheidenden Innovationsschübe schon im 16. Jahrhundert aus dem intensiven Studium antiker Dichtungstheorien. Doch gestalteten sich Übersetzung und Anpassung der poetologischen Paradigmen alles andere als glatt. Eine besondere Herausforderung stellte der Wissenstransfer zu Beginn des 17. Jahrhunderts für diejenigen dar, die das Ordnungsinstrument der Poetik nicht allein zur Kodifizierung antiker Maßgaben nutzen wollten, sondern auch das eigene, volkssprachliche Idiom bearbeiten mussten, um dem doppelten Anspruch auf Formvollendung in der Manier der ‚Alten‘ und moderne Konkurrenzfähigkeit zu genügen. So erklärt sich speziell im deutschen Sprachraum das Interesse der Poetiker an den jüngeren Techniken der vers- und reimmetrischen Regulation, die in England, den Niederlanden, vor allem aber in der Romania längst elaboriert waren und nun einem älteren Legitimationsrahmen eingepasst werden mussten, den sie eigentlich bereits sprengten. Die damit verknüpften Fragen von Freiheit und Zwang, Maß und Exzess, Nutzen und müßigem Divertissement gehen in ihrer Tragweite über den engeren Bezirk des prosodischen decorums hinaus und zeichnen nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges die Konfliktlinien weiterer Querelles vor, im Zuge deren die ‚Modernen‘ nicht nur untereinander in Rivalität treten, sondern auch die zeitlose Mustergültigkeit der Antike erodiert und im Parteienstreit unter historischen Behauptungsdruck gerät. | ||
Schon aus dieser kurzen literarhistorischen Skizze wird deutlich, dass die einzelnen Anleitungen zur deutschen Dichtkunst in enger Beziehung zu anderen Poetiken, aber auch zu Texten der antiken, meist rhetorischen Tradition und der zeitgenössischen, literarischen und wissenschaftlichen Produktion der europäischen Nachbarländer wahrgenommen werden müssen. Nur in der Zusammenschau der Einzeltexte lassen sich literarische Konjunkturen und Übersetzungsaktivitäten nachzeichnen, die zu Innovationen und teilweise klandestinen Übernahmen durch das Material führten. | Schon aus dieser kurzen literarhistorischen Skizze wird deutlich, dass die einzelnen Anleitungen zur deutschen Dichtkunst in enger Beziehung zu anderen Poetiken, aber auch zu Texten der antiken, meist rhetorischen Tradition und der zeitgenössischen, literarischen und wissenschaftlichen Produktion der europäischen Nachbarländer wahrgenommen werden müssen. Nur in der Zusammenschau der Einzeltexte lassen sich literarische Konjunkturen und Übersetzungsaktivitäten nachzeichnen, die zu Innovationen und teilweise klandestinen Übernahmen durch das Material führten. | ||
Aktuelle Version vom 12. Juni 2024, 13:16 Uhr
Die poetische Theoriebildung Europas bezog ihre entscheidenden Innovationsschübe schon im 16. Jahrhundert aus dem intensiven Studium antiker Dichtungstheorien. Doch gestalteten sich Übersetzung und Anpassung der poetologischen Paradigmen alles andere als glatt. Eine besondere Herausforderung stellte der Wissenstransfer zu Beginn des 17. Jahrhunderts für diejenigen dar, die das Ordnungsinstrument der Poetik nicht allein zur Kodifizierung antiker Maßgaben nutzen wollten, sondern auch das eigene, volkssprachliche Idiom bearbeiten mussten, um dem doppelten Anspruch auf Formvollendung in der Manier der ‚Alten‘ und moderne Konkurrenzfähigkeit zu genügen. So erklärt sich speziell im deutschen Sprachraum das Interesse der Poetiker an den jüngeren Techniken der vers- und reimmetrischen Regulation, die in England, den Niederlanden, vor allem aber in der Romania längst elaboriert waren und nun einem älteren Legitimationsrahmen eingepasst werden mussten, den sie eigentlich bereits sprengten. Die damit verknüpften Fragen von Freiheit und Zwang, Maß und Exzess, Nutzen und müßigem Divertissement gehen in ihrer Tragweite über den engeren Bezirk des prosodischen decorums hinaus und zeichnen nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges die Konfliktlinien weiterer Querelles vor, im Zuge deren die ‚Modernen‘ nicht nur untereinander in Rivalität treten, sondern auch die zeitlose Mustergültigkeit der Antike erodiert und im Parteienstreit unter historischen Behauptungsdruck gerät. Schon aus dieser kurzen literarhistorischen Skizze wird deutlich, dass die einzelnen Anleitungen zur deutschen Dichtkunst in enger Beziehung zu anderen Poetiken, aber auch zu Texten der antiken, meist rhetorischen Tradition und der zeitgenössischen, literarischen und wissenschaftlichen Produktion der europäischen Nachbarländer wahrgenommen werden müssen. Nur in der Zusammenschau der Einzeltexte lassen sich literarische Konjunkturen und Übersetzungsaktivitäten nachzeichnen, die zu Innovationen und teilweise klandestinen Übernahmen durch das Material führten.